Sex by Thomas Glavinic

Sex by Thomas Glavinic

Autor:Thomas Glavinic [Glavinic, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-10-21T16:00:00+00:00


NACKT

Der Aufenthalt an Pissoirs in öffentlichen Einrichtungen, speziell in Gasthäusern, wo zu späterer Stunde der betrunkene Nebenmann umzufallen droht, und wer weiß, wohin, ist selten entspannend. Man steht da und wartet, dass man endlich fertig wird. Manchmal liest man, was an der Wand steht, das kann sogar ganz lustig sein, vor allem, wenn man einen nicht allzu feinsinnigen Humor hat, so wie ich zum Beispiel. Toiletten sind jedenfalls kein Ort für große Gedanken. Trotzdem behaupten manche Menschen, die besten Ideen seien ihnen dort gekommen.

Mir kam neulich am Pissoir auch ein sehr großer Gedanke. Als ich merkte, dass mein einziger Nebenmann interessiert zu betrachten schien, was sein einziger Nebenmann in der Hand hielt. Warum ist es Männern, zumindest den meisten, egal, wenn ihr Intimbereich den Blicken anderer ausgesetzt ist, und Frauen nicht?

Männer pinkeln nicht nur im Gasthaus in Reih und Glied, sie postieren sich auch umstandslos am Straßenrand. Sie vergleichen sich in der Pubertät angeblich nach dem Sport in der Umkleidekabine (derartiges Verhalten konnte ich selbst nie beobachten, aber vielleicht waren wir bloß besser erzogen), sie stellen an jedem FKK-Strand die Mehrheit (wofür es allerdings wohl auch andere Gründe gibt), und sie tauchen völlig unbekleidet in Filmen auf. Nackte Frauen sieht man im Film auch, aber man sieht das entscheidende Detail nicht oder nicht wirklich, es bleibt unseren Blicken verborgen, während das der Männer zumindest manchmal unverhüllt über den Bildschirm schwingt. Warum ist das so?

Möglicherweise, und das war mein nächster Gedanke, während ich neben dem neugierigen Kollegen am Pissoir stand, sind sich Männer einfach der relativen Unwichtigkeit ihres Geschlechtsteils bewusst. Eines davon reicht, um hundert Frauen zu befruchten. Nehmt irgendeinen von ihnen, und der genügt, um die Art zu erhalten. Ob man diesen oder jenen hernimmt, spielt keine Rolle, da ist einer gleich gut wie der andere. Umgekehrt – ein Schoß, ein Kind.

Vielleicht ist das eine zu biologische Sicht auf die Dinge. Man kann doch nicht alles auf die Fortpflanzung zurückführen. Vielleicht ist ja alles viel schlimmer, vielleicht sind Männer sogar stolz auf dieses Ding zwischen ihren Beinen, das keinem ästhetischen Anspruch gerecht wird, und zeigen es bei jeder Gelegenheit bereitwillig her, weil sich, von dem unverhofften Anblick überwältigt, irgendein weibliches Wesen paarungsgierig darauf stürzen könnte?

Selbst wenn so etwas in Herrentoiletten unwahrscheinlich ist, diese Theorie scheint tragfähig. Männer sind von Natur aus ein bisschen schlicht, und wenn es um ihr Gemächt geht, verblöden sie geradezu. Natürlicher Umgang mit diesem Körperteil ist ihnen fremd. Ein nicht unerheblicher Teil von ihnen scheint zu glauben, das, was sie in Filmen von Rocco Sifredi sehen, sei die Normalität, obwohl nur die Dümmsten von ihnen wirklich glauben, das, was sie in einem Formel-1-Rennen sehen, sei normal und für jedermann leistbar (zumindest ist zu hoffen, dass es nicht viele solche Narren gibt). Frauen haben eine realistischere Sicht der Dinge, und wer nun mit ihrem Hang zu Diäten und ihrem Schlankheitswahn kontert, dem sei entgegnet, dass dieser nicht so unvernünftig ist. Man muss wirklich nicht dick sein, es sei denn, man leidet an einer Krankheit, als Dicker schadet man sich selbst gesundheitlich und anderen wegen des unerfreulichen Anblicks, den man ihnen zumutet.



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